12. September 2012

Hier sitze ich nun und tausche meine letzten Münzen gegen Bier, denkt Jonas. Er hat noch vierzehn Euro im Portemonnaie, das Konto ist mit dreiundsiebzig Euro im Soll, eine Abbuchung über zwanzig Euro steht noch aus, beim Rasieren war ihm aufgefallen, dass seine Rippen im Spiegel schärfer hervorstachen als die Klingen in seiner Hand, beim König sind, ein Glück, noch zwei Mahlzeiten im Vorraus bezahlt, übermorgen wird er wieder über Los ziehen und das Geld für die nächste Runde an ihn überwiesen. Er hasst Geld, weil es ihn nicht lesen, sehen, schauen, hören und lauschen, nicht lernen, erfahren und begreifen lässt, sondern alle diese Tätigkeiten zu einem Tauschmittel, zu Arbeitskraft, Denkvermögen und Humanressource macht.

Im Keller des Graceland umgeben ihn laute Musik, hektische Gespräche und die Geburtstagsgesellschaft seiner besten und längsten Gefährtin: Die Mitbewohnerin der Gefährtin und ihr Lebensabschnittsmann, eine Freundin der Gefährtin und ihr Lebensabschnittsmann und ein Mädchenmädchen, von dem Jonas nicht weiß, wie es in diese Runde hineingehört und welches alles super- findet. Die beste und längste Begleiterin erzählt von ihrer Israelreise und dem Nebeneinander von Christentum, Islam, Judentum und Tourismus in Jerusalem. Mädchenmädchen: Superinteressant, superbeeindruckend, superkrass, wow. Die Freundin der Gefährtin und ihr Lebensabschnittsmann erzählen von einer Hochzeitseinladung und ihren Problemen, eine passende Übernachtungsmöglichkeit und ein passendes Geschenk zu finden. Mädchenmädchen: Supernervig, superanstrengend, superkompliziert, scheiße. Das Mädchenmädchen trägt ein perlweißes Oberteil mit einem perlweißen Haarband und langweilt Jonas schrecklich. Er kann, im Gegensatz zu ihr, super- gar nicht aussprechen ohne ironisch zu klingen und schreibt der schwarzen Witwe, weil er sich beschäftigen und ablenken muss, aber schon zu viel geraucht und getrunken hat. "Langweilst du dich?" fragt ihn die beste und längste Gefährtin. Er verneint. "Gestern wirktest du fröhlich, heute wirkst du müde", gibt sie zu bedenken. Es ist ihm unangenehm, dass er nicht fröhlich und wach ist, weil sie es verdient hätte.

Als sich die Geburtstagsgesellschaft auflöst, geht Jonas nach oben in den Hauptraum des Graceland und dartet betrunken eine Runde mit dem sehr betrunkenen Italiener und dem noch betrunkeneren besten und längsten Gefährten. Er ist überrascht, den Gefährten hier an diesem Tag anzutreffen, denn der Gefährte und die Gefährtin waren lange Zeit ein Paar und sind es jetzt schon lange Zeit nicht mehr. Der Italiener erzählt von einer neuen Geschäftsidee.

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Ende II

Von außen sieht das Gebäude aus wie ein modernes Hotel ohne Tradition, hochgezüchtet für den Fremdenverkehr in den Alpen und den Familienurlaub an der Ostsee. Riesige Fenster, egal, auf welcher Seite der Scheibe man steht, keine Vergangenheit. Seine Begleitung parkt den roten Polo und sie schleichen über den Vorhof auf den Eingang zu und müssen trotzdem noch abbremsen, so elendig langsam öffnet sich die Schiebetür, wie das Tor ins schwarze Land zwischen Aschen- und Schattengebirge, aus dem einzig der Schicksalsberg ragt.

Drinnen riecht es nach nichts, nicht nach Putzmittel, nicht nach alten Leuten, nicht nach Essen, obwohl es elf Uhr ist und direkt gegenüber der Speisesaal liegt. Tatsächlich ist die Eingangshalle ohne Eigenschaften. Boden, Wände, Decke, wegführende Flure und grelles, flutendes Licht. Am Ende des Tunnels muss es hell sein.

Auf der Suche begegnen sie der Schwiegermutter seiner Tante. Sie ist stark dement, taub, an den Rollstuhl gefesselt und starrt auf das Bild eines Leuchtturms. Jonas und seine Begleitung grüßen, keine Reaktion. Sie weiß nicht, dass sie angesprochen wurde und selbst wenn, kann sie dem Gesicht keine Person, keine Erinnerung zuordnen. Überall Menschen, die nicht tot sind, aber kaum noch wissen, dass sie leben und schon gar nicht, dass sie gelebt haben. Uralte Embryos ohne Nabelschnur, die nach dem vertrauten Herzschlag einer fehlenden Mutter horchen.

Etwas weiter werden sie von einer unbekannten Frau angestarrt. “Helft mir! Ich mag nicht mehr! Helft mir doch!” Jonas starrt entsetzt zurück, er ist wie angewurzelt. “Helft mir doch!” In der Hölle auf Erden verführen und locken keine Succubi. Du trittst ein und dir wird die Seele ausgesaugt. Du spürst, wie du innerlich zusammenbrichst, das Leben in dir zerbricht. Du befindest dich im Schatten und deine Gedanken werden zu Asche.

Seine Großmutter sitzt in einem Wintergarten. Sie erkennt die Gesichter als Jonas und seine Begleitung auf sie zukommen, sie lächelt, sie erzählt, wie es ihr geht und wie das Leben hier ist, immer und immer wieder, weil ihr Kurzzeitgedächtnis nicht mehr funktioniert, aber sie erzählt. Und sie sieht glücklich aus. Sie sieht glücklich aus!
Eine Stunde unterhalten sie sich mit ihr und Jonas unterdrückt die Tränen, ist immer froh, wenn seine Begleitung das Gespräch am Laufen hält. Während er verzweifelt versucht auch nur ein einziges Wort zu finden.

Seine Oma wird sterben, wahrscheinlich noch vor Weihnachten. Aber sie sieht glücklich aus.

Er schaut aus dem Fenster. Draußen ein angelegter Garten ohne Vergangenheit, drinnen ein letzter, schwach glimmender Funke.

“Danke.”

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2011 – Ein Rückblick

Viel wurde geredet, diskutiert und festgestellt, während man im Graceland unzählige Kaffeebecher leerte, Backgammon, Schach oder Poker spielte, Sportübertragungen, Filme und Serien schaute. Eine kleine Bilanz, was die kritischen Beobachter an Theke und Stammtisch interessierte, welche Ereignisse gefeiert wurden, welche Themen man geflissentlich versuchte zu ignorieren und wann schlicht die Worte fehlten.

Der arabische Frühling
Mit großem Interesse verfolgte man die Auseinandersetzung der tunesischen, ägyptischen, libyschen, syrischen und jemenitischen Bevölkerung mit ihren Diktatoren oder langjährigen Staatsführern und beglückwünschte sie zu ihrem Demokratiewillen. Gleichzeitig fiel es schwer, das Aufbegehren und die Auswirkungen einzuschätzen, weil nur wenig über die politische Kultur und Geschichte dieser Länder den Gästen des Graceland bekannt war. Die Reaktionen der deutschen und europäischen Politiker wirkte opportunistisch. Zu selten hatten sie in der Vergangenheit die Legitimität der arabischen Regierungen öffentlich angezweifelt. Westerwelles Verweigerung einer Teilnahme der Bundeswehr an internationalen Militärmaßnahmen in Libyen unterstützte man insofern, dass die Kritik an seiner Entscheidung bei gleichzeitiger Kritik am Irak- und Afghanistaneinsatz widersprüchlich gewesen wäre. Die Hinrichtung Muammar al-Gaddafis war nachvollziehbar, aber falsch. Dass jedoch selbst die westliche Welt nicht vor solchen Rachetaten gefeit ist, zeigte bereits im Mai die prozesslose Exekution Osama bin Ladens durch amerikanische Soldaten. Der geringste Fortschritt ist bisland in Syrien zu verzeichnen, aber auch in Ägypten, Jemen und Libyen dauern die Unruhen an. In Tunesien kann man sich nicht sicher sein, dass die demokratische Ausrichtung des Wahlsiegers, der islamischen Ennahda, der innerparteilichen Realität entspricht. Die Umwälzungen in der arabischen Welt werden auch 2012 Thema bleiben und es besteht ganz klar Nachholbedarf beim Wissen über diese Region, um sich angemessen mit ihr auseinandersetzen zu können.

Unsymphaten
1. Karl-Theodor zu Guttenberg
2. Bushido
3. Philipp Rösler
4. Felix Magath
5. Joseph Blatter

Der frühere Police Captain Ray Lewis in Handschellen bei einer OWS-Demonstration in New York.

Die Finanzkrise und die Occupy Wall Street
Überfordert war man im Graceland mit der Krise des Euros und sowohl die Experten in den Medien als auch die Politiker zeigten so gut wie keine Lösungsansätze, sondern ebenfalls überwiegend völlige Ahnnungslosigkeit, wie man den Problemen begegnen sollte. Ohne konstruktive Vorschläge, aber mit einer Menge Wut im Bauch formierten sich weltweit Bewegungen mit großen Teilnehmerzahlen, die, in Italien und Griechenland sogar zum Teil gewaltbereit, gegen bestehende Verhältnisse demonstrierten. Immerhin ließ Angela Merkel erstmals Durchsetzungsfähigkeit und eine Art Profil erahnen. Frankreich und Deutschland verhandelten mit dem Rest der EU Hilfspakete, die Kreditwürdigkeit der USA wurde herabgestuft, der britische Premierminister Cameron versuchte den Finanzstandort London zu sichern, China setzte alles daran, das weitere Wachsen der Wirtschaft zu garantieren und Portugal, Griechenland, Italien und Spanien kämpften krampfhaft mit der Sanierung ihrer Haushalte.

Nervigste Pointenausschlachtung
1. Krise der FDP
2. EHEC
3. Manipulation der russischen Parlamentswahlen

Kate beginnt vor den Augen der Öffentlichkeit die Flitterwochen.

Sportliche Höhe- und Tiefpunkte
Schalke 04 schlachtete Inter Mailand im Champions League-Viertelfinale und wurde später mit einem ebenso deutlichen Ergebnis DFB-Pokalsieger. CL-Sieger Barcelona ließ gegen Manchester United keinen Zweifel an der spanischen Dominanz im internationalen Vereinsfußball. Borussia Dortmund erkämpfte sich nach langer wirtschaftlicher Krise wieder einen Meistertitel und insbesondere Mario Götze avancierte in der jugendlichen Mannschaft zu einem Publikumsliebling. Dallas Mavericks gewannen die NBA-Playoffs und Dirk Nowitzki wurde wertvollster Spieler der Finalserie. Wladimir Klitschko konnte den Maulhelden David Haye besiegen, der sich mit einer Zehverletzung herausreden wollte. Sebastian Vettel wurde Formel 1-Weltmeister. Joseph Blatter ging mit den Korruptionsvorwürfen gegen die FIFA unsouverän um und ließ es an Transparenz mangeln. Michael Ballack wurde als deutscher Nationalspieler abgedankt und Theo Zwanziger dankte als DFB-Präsident selbstständig ab.

Songs
1. Mumford & Sons – Little Lion Man (Monkey Safari Remix)
2. The National – Exile Vilify
3. Lana Del Rey – Blue Jeans
4. Philipp Poisel – Eiserner Steg
5. Eminem feat. Dr. Dre & Skylar Grey – I Need A Doctor
Sonderpreis für Originalität: The Lonely Island feat. Akon – I Just Had Sex
Einfach nur mies und trotzdem omnipräsent: Rihanna – We Found Love

Filme und Serien
Ryan Gosling konnte 2011 als ultimativem Karrieredurchbruch feiern. Es würde nicht verwundern, wenn er aus dem Nichts kommend mehrere Oscarnominierungen erhielte. Wenn man von “Shame” und “Melancholia” absieht, rettete er, gemeinsam mit George Clooney, das Kinojahr: “Drive”, “Crazy, Stupid, Love.”, “The Descendants” und vor der Kamera vereint in “The Ides of March” – fantastisch. Von der Entgleisung Lars von Triers, in welcher er sich zur Ideologie Adolf Hitlers bekannte und nach der er von künftigen Filmfestspielen in Cannes ausgeschlossen wurde, sollte man sich “Melancholia” nicht vermiesen lassen. Kirsten Dunst zeigte in diesem Untergangsdrama ihr ganzes Talent und hatte zudem die mit Abstand erotischste Szene des Kinojahres. Auch das Harry Potter-Finale konnte überzeugen. Die Jugendbuchreihe einer Generation wurde in Schrift und Bild würdevoll abgeschlossen.
Den Titel für die beste neue Serie müssen sich “Game of Thrones” und “Homeland” teilen, dicht gefolgt von “Suits”. Erwartungsgemäß großartiges Fernsehvergnügen boten die vorletzte Staffel “Breaking Bad”, die zweite Staffel “Boardwalk Empire” und die sechste Staffel “Doctor Who”. Auch “Modern Family” und “Californication” überzeugten, während “Two and a Half Men” ohne Charlie Harper und mit Ashton Kutcher nicht für die gewohnten Lacher sorgen konnte. Ebenso schwächelten “How I Met Your Mother” und “The Big Bang Theory”.

Meistgespielte Künstler und Bands
1. Drake
2. Muse
3. The Kills
4. David Bowie
5. Stars

Eine Mutter nutzte ihren Körper als Schutzschild, um ihr Baby vor den Auswirkungen des Erdbeben in Japan zu retten.

Katastrophen und Morde
Schweigend nahm man im Graceland die Meldungen über das Erdbeben, den Tsunami und die Kernschmelze in Japan sowie das Attentat in Utoya zur Kenntnis. Wenige Worte fand man auch über die politisch motivierten Morde einer rechtsextremen Untergrundorganisation. Lediglich die mediale Ausschlachtung – und sei es mit dem begrüßenswerten Ergebnis eines Machtwechsels in Baden-Württemberg, des überfälligen Automausstieg oder der Aufdeckung von Missständen beim Verfassungsschutz – stießen sauer auf.


Peter Alexander
Amy Winehouse
Loriot
Steve Jobs
Christa Wolf
Václav Havel

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